17. Dezember 2024
Ein kritischer Blick auf die Geschichte der deutschen Islamwissenschaften
Zwischen Elfenbeinturm und Kolonialbeamten 2.0
von Leon Wystrychowski
Die Disziplinen, die wir heute als Islamwissenschaften, teilweise aber auch als Middle Eastern Studies, Arabistik oder zum Teil noch als Orientalistik kennen, entstand im 19. Jahrhundert. Ihre Wurzeln reichen aber weiter zurück und liegen in der Auseinandersetzung europäischer Christen mit dem jungen Islam im frühen »Mittelalter«. Diese Auseinandersetzung stand im Zeichen der sich zunehmend religiös aufladenden militärischen Mobilisierung der Katholiken gegen die Muslime in Spanien, den Kreuzzügen und den Eroberungen der Osmanen in Osteuropa. Entsprechend ging es nicht um ein akademisches oder theologisches Interesse, sondern um die ideologische Bekämpfung »des Islam«, für die man zunächst Wissen über diesen benötigte. Damit hatte die Auseinandersetzung von Beginn an den Doppelcharakter, dass die Intensivierung des Wissens über den Islam in Westeuropa Hand in Hand mit der Ausprägung des Feindbilds »Islam« einherging.
Auf der anderen Seite gab es immer wieder Beispiele, wie Muslime und der Islam in der westlichen Rezeption positiv aufgefasst wurden. Allerdings schloss an diese positiven, oft ebenfalls verkürzten Darstellungen bald der Exotismus an. Diese Darstellung des »Orientalen« war in ihrem Inhalt zwar ambivalent und griff sowohl positive als auch negative Klischees auf, in ihrem Wirken aber diente sie dem othering, der Konstruktion eines muslimischen »Anderen«, das »dem Europäer« dem Wesen nach entgegengesetzt war. Dadurch ergänzte der Exotismus den aufkommenden Kolonialrassismus (nicht nur) gegenüber den mehrheitlich muslimischen Völkern, diente als Scharnier zwischen der Romantik der »Liebhaber« und »Abenteurer« auf der einen und dem Chauvinismus der Rassisten und Machtpolitiker auf der anderen Seite. Ähnliches galt für die aufkommenden Orientwissenschaften.
Ein Kind des Kolonialismus
Der Abschluss der Reconquista fiel mit der »Entdeckung« Amerikas zusammen, die den Startschuss für die Kolonisierung weiter Teile der Welt durch die Europäer gab. Allerdings gingen die europäischen Mächte erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der in erster Linie ökonomischen Durchdringung des geschwächten Osmanischen Reichs zur offenen militärischen Aggression in der Region des sog. Nahen und Mittleren Ostens über. Nach der Niederlage der Osmanen im Ersten Weltkrieg teilten Großbritannien und Frankreich die arabischen Länder unter sich auf. In dieser Zeit der zwischenimperialistischen Konkurrenz und kolonialer Grenzziehungen erhielten die Orientwissenschaften Einzug an den Universitäten Europas und wurden staatlich gefördert. Primäres Ziel war es, die Regionen und Gesellschaften, die man unterwerfen wollte, zu verstehen, um sie besser beherrschen zu können.
Die Begriffe des englischen »orientalist« und des französischen »orientaliste« kamen Ende des 18. Jahrhunderts auf und wurden später ins Deutsche übernommen. Sie bezeichneten zunächst unterschiedslos die sich in dieser Zeit akademisierende (vor allem sprach)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem gesamten »Orient«, das heißt dem so genannten Nahen und dem Fernen Osten. Im Zuge der Ausdifferenzierung kolonialer und akademischer Interessen wurden Afrikanistik, Indologie, Sinologie und weitere Fächer im Laufe der Zeit von der Orientalistik getrennt, sodass diese sich schließlich nur noch auf den »vorderen Orient«, also die MENA-Region bezog. Studieren konnten Interessierte diese Gesellschaften zunächst fast ausschließlich in den Zentren der europäischen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien.
Sowohl die nationale Einheit betreffend als auch auf dem Feld der Kolonialpolitik hinkten die Deutschen den Briten und Franzosen hinterher. Wie die sich erst spät entwickelnden Ambitionen im »Orient«, wurde auch die Wissenschaft in diesem Bereich zeitlich verschoben institutionalisiert. Zwar gab es bereits seit dem 18. Jahrhundert deutschsprachige publizistische Auseinandersetzungen mit der sog. islamischen Welt, allerdings etablierte sich die bis heute bestehende Deutsche Morgenländische Gesellschaft (DMG) als erste Vereinigung deutscher Orientalisten erst 1845. Die Gründung fiel damit nicht nur mit der Hochzeit nationaler Einheitsbestrebungen zusammen, sondern auch mit dem Aufkommen deutscher Kolonialambitionen.
Die Orientalisten und der »Platz an der Sonne«
»Die Blütezeit vorderasiatischer Studien« in Deutschland brach jedoch erst nach der Reichsgründung 1871 an. 1887 wurde in Berlin das Seminar für orientalische Sprachen (SOS) eingerichtet, das sich explizit der Ausbildung für den praktischen Gebrauch in der deutschen Außen-, Wirtschafts- und Kolonialpolitik widmen sollte. Ähnliches galt für die 1913 ins Leben gerufene Deutsche Gesellschaft für Islamkunde. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs stimmten auch prominente Orientwissenschaftler wie Theodor Nöldeke und Carl Heinrich Becker in den Chor der den Krieg befürwortenden Akademiker ein. Becker unterstützte zudem die Initiative der deutschen Führung, welche das verbündete Osmanische Reich dazu anhielt, den »Jihad« gegen die Entente-Mächte auszurufen.
Unter den Nazis wurden die orientalistischen Institutionen den außenpolitischen Interessen und ideologischen Vorgaben entsprechend umstrukturiert. Nur wenige Orientalisten, wie zum Beispiel Joseph Schacht, verließen Deutschland nach der Machtübertragung an die NSDAP. Viele stellten sich in den Dienst der Faschisten, wie etwa Rudi Paret, der für die deutschen Truppen während des Nordafrikafeldzugs dolmetschte. Muslime und Araber nahmen in der Politik der Nazis eine widersprüchliche Rolle ein: Sie galten als »rassisch minderwertig«. Zugleich versuchte man sie als mögliche Verbündete gegen Briten, Franzosen und die UdSSR zu gewinnen. Dafür wollte man Hitlers Mein Kampf ins Persische und Arabische übersetzen lassen. Zu diesem Zweck förderten die Nazis die Forschung eines gewissen Hans Wehr, der an einem umfangreichen arabischen Wörterbuch arbeitete. Ein wenig bekanntes Kapitel der Entstehungsgeschichte dieses bis heute unverzichtbaren Standardwerks der Arabistik ist das Wirken der jüdischen Islamwissenschaftlerin Hedwig Klein, die im Anschluss an ihre Arbeit von den Nazis ermordet wurde. Erst in der 2020 erschienenen Neuauflage wurde ihre Arbeit im Vorwort des Verlags gewürdigt.
Zwei Schritte vor, einer zurück
In der BRD lag nach dem Ende des Krieges der Schwerpunkt der Lehre und Wissenschaft im philologischen Bereich. Eine Ausnahme bildete die Freie Universität in Westberlin. Im Laufe der Zeit entwickelten sich zwei regelrechte Pole in der westdeutschen Islamwissenschaft, von denen die »klassischen Orientalisten« mit ihrem philologisch-historischen Schwerpunkt den einen, die sozialwissenschaftlich geprägten Islamwissenschaftler mit ihrem Fokus auf aktuellen gesellschaftlichen Realitäten den anderen bildeten. Ab den 1970er Jahren begann sich das Mehrheits- und Kräfteverhältnis zugunsten letzterer zu verschieben. Allerdings ergänzen sich beide Strömungen in der Forschung bis heute. Insgesamt entwickelte sich die westdeutsche Islamwissenschaft im Vergleich zu früher oder zu anderen Staaten etwas autonomer, da sie nach 1945 als Werkzeug außenpolitischer Machtinteressen des besiegten Deutschlands zunächst ausgedient hatte.
In der DDR lehnte man dagegen das Bild einer vermeintlich von den politischen Machtverhältnissen unabhängigen Wissenschaft ab. Neben der klassischen orientalistischen Forschung rief man auch die Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften ins Leben, von denen ganz offen erklärt wurde, sie hätten sowohl der Erziehung der Bevölkerung zum »Internationalismus und zur antiimperialistischen Solidarität«, als auch »der Gestaltung unserer Beziehungen zu den Ländern Lateinamerikas, den jungen Staaten Asiens und Afrikas und den nationalen Befreiungsbewegungen« zu dienen. Nach dem Anschluss der Deutschen Demokratischen an die Bundesrepublik wurden die Institutionen der DDR abgewickelt; zahlreiche Wissenschaftler wurden entlassen, die akademischen Einrichtungen umstrukturiert und im Fall des Herzstücks der DDR-Nahostwissenschaft, dem Leipziger Orientinstitut, eine gegenwartsbezogene Forschungseinrichtung in ein – wenn auch heute sehr renommiertes – völlig auf die Philologie gestutztes Seminar umgewandelt. Aus der 1991 aufgelösten Ostberliner Akademie der Wissenschaften jedoch ging das Zentrum Moderner Orient (ZMO) hervor, in dem ehemalige DDR-Islamwissenschaftler unterkamen.
Wie auch in anderen Gesellschaftswissenschaften sind in Teilen der Islamwissenschaften seit einigen Jahren Ideen der postcolonial studies auf dem Vormarsch. Diese Entwicklung geht vor allem zurück auf die Schrift Orientalism (1978) des palästinensisch-US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Edward Said. Insbesondere den angelsächsischen und französischen Orientalisten hatte dieser vorgeworfen, ein essentialistisches und rassistisches Bild von einem imaginierten »Orient« zu konstruieren, das letztlich dem Zweck diene, diesen »zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken.« Während seine Kritik zunächst auf heftige Abwehr stieß, bedauern heute manche Islamwissenschaftler, dass Said die deutsche Forschung und Publizistik ausgespart habe. Mittlerweile setzen sich viele Islamwissenschaftler kritisch mit eurozentristischen Weltbildern und der Kolonialgeschichte auseinander, ohne allerdings zwangsläufig postkolonialen Theorien anzuhängen.
Zwischen Elfenbeinturm und Kolonialbeamten 2.0
Das problematische historische Erbe der Islamwissenschaften ist offensichtlich. Grundsätzlich stellt sich auch heute die Frage, wieso es eine »Wissenschaft« gibt, die sich dem Namen nach einer Religion widmet, in der Realität aber meist an philologische Fakultäten angegliedert ist und sich zugleich meist schwerpunktmäßig mit gesellschaftswissenschaftlichen Themen verschiedener zum Teil äußerst unterschiedlicher Länder befasst. Dadurch verschwimmen nicht selten die Grenzen: Historiker oder Sozialwissenschaftler ohne Arabischkenntnisse gelten als Islam-»Experten« und Arabisten schreiben Bücher mit geschichtswissenschaftlichem Anspruch.
Auf der anderen Seite ist zwar zu beobachten, dass sich die Islamwissenschaft zunehmend interdiszipliniert und die Fachdebatten heute (selbst)kritischer und weltoffener sind. Umso schlimmer ist es jedoch, dass sich diese Entwicklung in keiner Weise im gesamtgesellschaftlichen Islamdiskurs wiederfinden. In den Talkshows sitzen immer dieselben »Experten« und die Medien besprechen die immer gleichen Schmähschriften zum Thema »Islam«. Das hat auch damit zu tun, dass sich immer noch viele Islamwissenschaftler zu fein sind, der breiten Masse verständlich sachliches Basiswissen zu vermitteln, sich aktiv in öffentliche Debatten einzumischen, den Halb- und Unwahrheiten zu widersprechen und den Hetzern die Stirn zu bieten. Wissenschaft war immer Teil der Gesellschaft, von den jeweiligen Umständen geprägt und hat zugleich Einfluss genommen. Das ist sie in Zeiten von »Anti-Terror-Kriegen« und »Islamisierungs«-Ängsten nicht minder. Es sind immer auch politische Entscheidungen, die man treffen muss: Ob man im interkulturellen Dialog oder bei Geheimdienst und Polizei arbeitet (letztere beiden sind immer noch die führenden Arbeitgeber für Islamwissenschaftler); nur einen weiteren Aufsatz für eine Fachzeitschrift verfasst oder sich in eine Fernsehsendung setzt und über unsinnige Beschneidungsdebatten, Kopftuchverbote und Rohstoffkriege streitet.
Allerdings wäre es auch falsch, zu glauben, dass sich die Islamwissenschaft als solche heute von ihrer herrschaftstragenden und -legitimierenden Rolle emanzipiert hätte und nun allein das Problem darin bestünde, ihre Erkenntnisse in die breite Bevölkerung zu streuen. Tatsächlich studieren nach wie vor noch genug Islamhasser und Rassisten das Fach und auch unter den renommierten Wissenschaftlern gibt es einige mit KolonialherrenMentalität. Doch gerade auch die neueren, sich »modern« gebenden Trends muss man kritisch betrachten: Vieles davon scheint eher oberflächliche Maniküre zu sein. So ändert die Umbenennung von »Institut für Orientalistik« in »Institut für Arabistik« erst einmal nichts am gelehrten und erforschten Stoff; ähnliches gilt für die Benutzung von Begriffen wie »West Asia« oder »WANA«, wenn damit letztlich nur koloniale Haltungen kaschiert werden. Die nach wie vor starke Anfälligkeit der Islamwissenschaften für politische Interessen der westlichen Eliten zeigt sich konkret etwa darin, dass das Konzept des Konfessionalismus (also die – vermeintlich seit langem bestehende und tiefe – Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten) vielen »Experten« in den letzten Jahren als der Schlüssel zum Verständnis des Nahen und Mittleren Ostens erschien, während er in Wahrheit vor allem ein vom Westen genutztes Spaltungsinstrument war und ist, das besonders im Libanon, im Irak und in Syrien zum Einsatz kam. Zudem wird unter dem Deckmantel postkolonialer Anleihen gerne dem alten Teile-und-herrsche-Prinzip Vorschub geleistet, indem die Nationalstaaten in der Region »dekonstruiert« werden. Und schließlich gehören Polizei und Geheimdienste auch heute noch zu den wichtigsten Arbeitgebern für Islamwissenschaftler – wobei nicht ausgemacht ist, wer das größere Problem darstellt: Islamhasser, die dorthin gehen und sich austoben, oder aber ernst zu nehmende Experten, die tatsächlich dabei helfen können, Repressions- und Subversionsmittel effizient zu entwickeln.
KOLONIALHERREN-MENTALITÄT: Palästina 1936, Jaffa. Ein britischer Soldat durchsucht Anwohner an einem Checkpoint nach Waffen.